Carl Ceiss

Für die Köpfe und Herzen

(Antwort auf eine Rundfrage: Was ist Theater?)

Theater ist überflüssig, reiner Luxus. Aber was wäre unser Leben ohne Luxus? So hart und so öde, dass wir dem Leben schnell überdrüssig würden. Der leichte und spannende Luxus Theater kann es erträglich machen. So genießen wir im Theater das Leben.
Das Theater in unserer Gegenwart umfasst höchst komplexe Funktionen, historisch gewachsene und durch die neuen Medienlandschaften der Unterhaltungsindustrie modifizierte.
Das Theater kann sich als ein Element der Demokratie und des menschlichen Emanzipationsprozesses beweisen, ein Hort des Utopiepotenzials der Menschheit sein. Theater sollte nicht nur auf politische Prozesse, wissenschaftliche Entdeckungen bzw. journalistische Enthüllungen reagieren, sondern ein Initiator sein, welcher agierend in aktuelle gesellschaftliche Prozesse eingreift. So darf man das Theater als einen Brenntiegel gesellschaftlicher Selbstverständigung verstehen. Wenn es dadurch zu einem Kommunikationsbarometer der Wirklichkeit wird, einem Ort, der einen vergnüglichen Diskurs über die Widersprüche und Konflikte der Formation gestattet, verwandelt sich das Theater selbst in eine risikofreie soziale Versuchsanordnung. Kurz, das Theater wird zu einem Laboratorium der sozialen und theatralischen Phantasie, welches die Produktivkraft Lebenskunst entwickelt und Konsens stiftet in unserer Dissens produzierende Hochleistungsgesellschaft.

Im Zentrum der Theaterarbeit stehen der Ereignischarakter und die Singularität der Bühnenkunst, dessen Grundlage der lebendige Mensch, nicht die technisch vervielfältigte Kopie ist. Der Wert lebendiger Kreativität der Schauspieler erfährt so seine gerechte Würdigung. Durch neue Stücke werden die Ideen lebender Autoren und Autorinnen vom Schreibtisch in die Köpfe und Herzen des Publikums transportiert, erzeugen direkte, unmittelbare Wirkungen und produzieren ein lebendiges Verhältnis zwischen den Bühnenkünsten und der Gesellschaft. Nur wenn Theater lebende Autoren spielen, werden sie durch diese Innovationen den Investitionen gerecht, die man gemeinhin Subventionen nennt.

Auf dem Spielplan der Theater interessiert meist die große "Haupt- und Staatsaktion", sowohl regional- als auch welthaltige Themen mit historischem Atem und aktueller Brisanz. So nutzt und bewahrt das Theater unseren Standortvorteil der langen Tradition von Philosophie und Kunst und trägt zur Integration und Identität der Deutschen miteinander und in Europa bei. Mit der Innovationskraft theatralischer Phantasie können die immer komplexeren Konflikte am Beginn des dritten Jahrtausends bewältigt werden.

Wenn wir davon ausgehen, daß die Jahrhunderte der Aufklärung beendet sind und wir uns nun in einem "Zeitalter der Abklärung" (Guggenberger) befinden, wird Theater vom Bürgertum kaum mehr als Bildungsstätte benötigt und genutzt. Der Zugang zu Bildung ist unkompliziert. Wir befinden uns in einer Informations- und Kommunikationsgesellschaft, in der allein der Erlebniswert zählt. Aufklärung im klassischen Sinn wirkt auf der Bühne antiquiert, schal. Die "moralische Anstalt" ist lange tot. Denn Bildung ist kein schwer erreichbarer Wert mehr, sondern an jeder Universität oder im Internet inzwischen effizient zu erhalten. Gefragt dagegen sind in der Wirtschaft und in unserem Leben zunehmend hohe soziale Kompetenzen. Solche soziale Kompetenz erwerben die Zuschauer durch die Beobachtung des Verhaltens der Theaterfiguren in ihren Konfliktsituationen. Zugleich mit dieser wesentlichen Verschiebung zu diesem "Theater der Abklärung" geht die Zeit der Verbannung des gestischen Vergnügens ihrem Ende entgegen.

Die Theater fördert das Erkennen der immer komplexeren Wirklichkeit durch das Publikum und ermutigt sie zum aktiven Eingreifen in gesellschaftliche Prozesse. Es trägt mit seinen spezifischen Möglichkeiten dazu bei, die demokratischen Einspruchsrechte des Einzelnen zu nutzen. Die Theaterkünste treten für die Übernahme von Verantwortung für das eigene und für fremdes Leben ein. Damit stellen sich die Theater mit ihren Inszenierungen der Implosion menschlicher Utopien entgegen.

Modernes Theater wirkt in unserer postaufklärerischer, postemanzipatorischer Zeit der fortschreitenden Desozialisation der Formation entgegen, in dem es seine kommunikativen Elemente und den besonderen Ereignischarakter betont.

Die Theater ermöglicht durch seine Spielplangestaltung "gefahrlose" Einblicke in fremde soziale Realitäten und entwickelt die Kreativität und Phantasie seines Publikums, fördert die Sensibilität für den Anderen. Die Bühnen sollten die Fähigkeit zum Dialog zwischen den Generationen und Geschlechtern unterstützen und entwickeln und vor allem dem hohen Anspruch des Publikums nach Wahrhaftigkeit entsprechen, in dem sie ihre Interessen ernst nimmt. Die Theater tragen mit ihren spezifischen Mitteln zu einer vergnüglichen Unterhaltung über die Widersprüche und Konflikte der Gesellschaft bei und stellen so eine Alternative zur globalen medialen Explosion dar. Die virtuelle Dimension des Theater ist eine der ältesten und immerwährenden fiktionalen Wirklichkeiten der Menschheit.

Gutes Theater kann uns erschüttern und die Sicht auf unsere Wirklichkeit nachhaltig beeinflussen. Deshalb wird dieses Spielzeug der Gesellschaft allen drögen Sparzwängen zum Trotz ewig leben.


Carl Ceiss in: "Westfälische Nachrichten" vom 13. 6. 2000

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