DIE EISERNE HAND

"Das Unglück ist geschehen, das Herz des Volkes ist in den Kot getreten und keiner edlen Begierde mehr fähig.", stellt Goethe als Motto seinem URGÖTZ voran und Regisseur Armin Petras entschlackt das krude Fresko radikal und zimmert aus der Geschichte Gottfriedens, dem "schönen Raritäten-Kasten", mit eiserner Hand ein Gegenwartsspiel über das Zusammenprallen verschiedener Systeme und die Folgen auf die darin lebenden Subjekte, ihn interessiert nicht ein vielfarbiger barocker Holzschnitt, sondern Modellhaftes. "Es war einmal ..." beginnt sein Abend als grausiges Märchen auf der Hinterbühne der in einem ehemaligen Kasernenkomplex gelegenen Ersatzspielstätte Magdeburgs. Burg Jaxthausen ist ein weiträumiger Saustall in Stil der 50'ger Jahre, ein rotes Kunstleder-Klappsofa Mittelpunkt der rauhen Sippe um die Berlichingens. Die sind hier Flaschenbier trinkende rüpelhafte Proleten mit arg begrenztem Horizont, dumpf nationalistische Schläger in Lederhosen und Mädels in Deutschen Dirndln, die Weislingen nackt in einer Wassertonne gefangen halten. Götz, der amputierte Krüppel mit primitiver Handprothese, wird solide gespielt von Mirko Zschocke. Und Adelbert öffnet mit Akkubohrer das eiserne Keuschheitsschloß Marias, die im Lastenaufzug hängt und zieht sich mit ihr zum Liebesakt in den Küchenschrank zurück. Doch trotz aller Segnungen der Zivilisation sind es Barbaren geblieben, die kraftmeierisch am liebsten Bierflaschen zertrümmern und in die Schlacht mit dem Schal der lokalen Fußballmannschaft ziehen. "Er ist ein Mohr und muß verschwinden" und "Guten Morgen, liebe Sonne", sehr deutsche Stimmungsmusik mit rassistischem Ressentiment dienen dabei als pointierte Umbaumusiken.

Im rechten Winkel dazu die zweite Spielfläche, der Hof des Bamberger Bischofs, ein Bordell mit silbrigen Wände ohne Fenster mit Neonleuchten und darin einzig das Lotterbett der Adelheit von Walldorf, um deren Gunst alle buhlen. Sie singt zur Gitarre im Korsett und blauen halbdurchsichtigen Nachtgewand, ist eine Femme Fatale mit französischem Akzent, spielt mit den Männern Katz und Maus ohne ihr Bett zu verlassen, wird Susanne Menner durch ihr grandioses Spiel zum Zentrum des Abends. Weiber machen die Weltgeschichte und eine blaue 8 wird auf den Rücken der rüpelhaften Sippe gemalt, die sich verschanzt in ihrer Burg aus leeren Bierkästen, ein Rolltor für Dekorationen der Technik öffnet, um den in realer Natur mit Polizeifahrzeug Belagernden ein Feuerwerk entgegenzuschleudern. Bei dieser Radikalität des Zugriffs reißt der unsichtbaren Faden der Geschichte zuweilen ohne schlüssigen Ersatz zu liefern. Das populärste deutschen Zitat des kaisertreue Ritter fällt ebensowenig wie seine letzten im Gefängnisturm. Statt "Er kann mich IM ARSCHE LECKEN!" hier: "Macht eure Wende allein!", meint aber wohl dasselbe.

In Franz Xaver Kroetz WUNSCHKONZERT befinden wir uns auf der Probebühne der Freien Kammerspiele in einem Naturkundemuseum. Gleich neben dem ausgestopften Eber ist die Glasvitrine mit dem Wohnzimmer des Fräulein Raschs ( Bühne und Kostüm: Constanze Fischbeck ), einer alleinstehenden Angestellten, deren letzen Lebensminuten vor dem Suizid wir teilhaftig werden, die zunächst selber regungslos wie ausgestopft am Stückbeginn steht. Kroetz Wunsch, daß die Unterdrückten, Ausgebeuteten ihre nichterfüllten Erwartungen und aussichtslosen Hoffnungen ihres Lebens nicht in törichten Selbstmorden vergeuden, sondern den Mut finden sollen, es in die Waagschale eines Kampfes gegen ihre Unterdrückung werfen, eine revolutionäre Situation schaffen, ist deutlich von 1972. Den jungen Regisseur Sascha Bunge interessiert die Frage, "... warum es sich eine Gesellschaft leistet, auf das kreative Potential von unglaublich vielen Menschen zu verzichten, die oft das Interesse haben, dieses einzusetzen." und verlegt das Stück nach Magdeburg 1998. Bunge hält sich nicht sklavisch an alle Vorschläge des Autors, erfindet mit seiner Hauptdarstellerin Variationen zum Thema, erzeugt ganz brechtisch Spannung auf den Gang des Spiels, da der Ausgang bekannt ist. Zwei weitere Kommentarebenen gehören zu den glücklichen Einfällen der Inszenierung: Ein "Diavortrag" betrachtet die Außenwelt, Großaufnahmen einzelner Tätigkeiten der Hauptfigur, vermittelt Szenentitel und Kommentare, stellt Fragen. Insbesondere die sorgfältige Auswahl der unsäglichen Musiktitel des Wunsch-konzertes und die hinzuerfundenen genau getroffenen bitterironisch wirkenden Zwischentexte des Moderators überzeugen dramaturgisch, das Publikum schüttet sich vor Lachen über diese bissige Komik, denn der falsche Trost mit Fernweh-Herz-Schmerz-Grüßen drängen die Wortlose gradezu in ihr vermeidbares Ende. Gerda Haases Fräulein Rasch macht im graukariertem Kostüm das Melodram zur bereden Pantomime von höchster Präzession. Diese Inszenierung sensibilisiert unsere Mitmenschlichkeit, beschreibt die Eiserne Hand der Desozialisation und wurde vom Publikum mit herzlich anteilnehmendem, starken Applaus bedacht.

Mit über neunjähriger Verspätung wurde Ulrich Ziegers 41 Szenen aus einem Trauerspiel DIE SONNE IST BLAU im ehemaliger Ballsaal am Stadion Neue Welt uraufgeführt, eine schwere Theatergeburt. Zwar widmet der Autor sein Stück dem vierfachen Kindermörder Jürgen Bartsch, der 1966 verhaftet wurde und dreißigjährig an den Folgen einer Kastration verstarb, jedoch scheint mir das lyrisches Drama über die Schräglage des Individuums mehr mit den Erfahrungen und extrem subjektiven Befindlichkeiten und Sichten Ziegers zu tun zu haben. Er beschreibt das Martyrium einer Kindheit, die Empfindungswelten eines Außenseiters, zeigt einen grausamen, blutdürstigen, die Einsamkeit liebender Neck, jenen gelblockigen Knabe und Wassergeist der germanische Mythologie, eine "Über-die-Mauer-Schau" ins eigene Herz, vielleicht auch einen Sublimierungsversuch des Autors? Zieger strebt keine historische Ähnlichkeit mit dem Kindermörder Bartsch an, erzählt keine Kriminalgeschichte, betreibt keine soziale Ursachenforschung, interessiert sich nicht für Chronologie, sondern für gescheiterte Kommunikation und Fluchtverhalten der Figuren, die schwierigen Gesten der Verantwortung, wie er sagt. Die Falschaussage seines Titels "Die Sonne ist blau" wird nur wahr im Sinne einer anders wahrgenommenen Lebensrealität. "wir müssen von zeit zu zeit unsere begriffe neu füllen", verlangt die Figur des Einäugigen am Stückbeginn. Doch wenn die Begriffe zu tanzen beginnen, wird dem Einzelnen schwindlig. "Keine der Figuren ist in der Lage, ihre Wirklichkeit auf den Begriff zu bringen. Sie versuchen sich an eine für normal gehaltene Welt zu klammern, die ihnen in Wirklichkeit längst entglitten ist.", befindet Regisseur und Ausstatter Klaus Noack. "Ich habe den Eindruck, daß sich die Anpassungszwänge in dieser heutigen Gesellschaft eher noch verschärfen." Das Stück verweigert sich stringent dramatischen Konventionen und stellt dadurch jedes Theaters vor immense Schwierigkeiten, adäquate Spieltechnologien für diesen nonkonformen Dramatiker zu finden über die Fortschreibung des Zinnober-Konzepts hinaus. Denn um die reflexiv verspiegelten Innenwelten der abgetöteten Emotionen des Pubertierenden aufzubrechen und Spannung zu erzeugen, wäre ein objektivierendes Kontrastmittel zu erfinden gewesen. Doch Noack zelebriert den Text eher wie ein Weihespiel, entmystifiziert ihn nicht, wagt keine radikalen Striche, kann kaum komischen Momente im diesem Trauerspiel finden, über den Ziegers Stück zweifellos verfügt, alles bleibt eher unter einer bleiernen Schwere und schleppenden Gleichförmigkeit. Einzige Ausnahme ist die Soloszene der Frau, Joochens Mutter, dargestellt von Susanne Bard, die in ihrer Einsamkeit und Verlassensein vom Ehemann und Geliebten sich als eine verkrachte Operndiva schräg von Arie zu Arie singt, bis sie wie ein Hund jault und dafür den einzigen Szenenapplaus zwischendurch erhält. Die Hauptfigur Joochen, dargestellt von Steffen Gangloff, meist bekleidet mit einem weinroten Trainingsanzug, meistert die schwere Partie des gepeinigten und peinlichen Heranwachsenden, der die Dreiecksbeziehung der Mutter zu Ehemann ( Thomas Wingrich ) und Musiklehrer Voß ( Mathias Herrmann ) belauscht und sich immer größere Berge Wäsche unter seinen Trainingsanzug stopft. Warum Joochen zum Mörder wird, ist nur nebulös zu erfahren, nicht jedes Kind, das gelegentlich die ganze Welt umbringen möchte, verwirklicht dann seine Aggressionen auch. Trotz kühlen äußeren Bedingungen im Frühherbst läßt sich der sehr anspruchsvolle Wunsch des Autors, "Wichtig ist lediglich das Absinken der Raumtemperatur während der Aufführung.", an diesem Abend kaum verspüren, weitere Inszenierungen müssten es erneut versuchen. Freundlicher Beifall belohnte jedoch die Mühen des Ensembles mit diesem schwierigen Stück.

Hort Hawemanns und Uli Seidlers Stück "LAURENTIA UND TRALLALA oder Der Tisch ist schuld. Oder ...", entstand während des Probenprozesses durch Improvisation mit den Schauspielern. Diese theatralische Methode ermöglicht die kürzeste Zeit zwischen Wirklichkeitsbeobachtung, der Beschreibung von Gegenwart und Publikumsreaktion, ist ein ideales Werkzeug, in der Gesellschaft zu agieren, hätte ein Satyrspiel über die Gegenwart Deutschland nach den drei Trauerspielen werden können. Die Story wirkt wie ein beschwipster Kantinen-einfall: Ein Hiesiger hängt an einem Tisch rum, bis ein Dortiger ihm jenen Tisch abkaufen möchte, der nicht verkäuflich ist, was zu ewigen Streit führt. Gerald Fiedler und Eckhard Doblies agieren mit offensichtlicher Spielwut und setzen die Bruchstücke zu einer Theaterwirklichkeit zusammen. Kurz, es geht um die deutsche Einheitsmisere, liebe Laurentia mein, wann werden wir wieder beisammen sein, und Kniebeuge, Kniebeuge, wann wird es denn endlich Einheit sein ? Und ich bei meiner Laurentia sein und Glücksversprechen Zukunft. Der Tisch ist schuld, wenn er nicht rund ist, nicht alle miteinander reden. Ein Trallala im Saal der Freien Kammerspiele. Der Tisch ist rechteckig und steht auf zwei Bühnenebenen, die Dekoration erscheint unangemessen aufwendig wie für einen Klassiker gemacht. Zwanzig Minuten lang lacht das Publikum über die sprachverspielten Kalauer, der Text scheut keine Klischees und Platitüden, benennt diesen Mangel, eine Pointe jagt die nächste und ist doch irgendwie flach, eine Art Kinderkabrarett weit nach Mitternacht, dann ist die Luft raus am Premierenabend. Tags drauf soll es beim Publikum funktioniert haben und spielt sich in den nächsten Vorstellungen sicher noch zusammen. Schade, daß die dritte Person, Miß Untergrund, gespielt von Anja Werner, eine Art Weißclown, welche unter dem Tisch wohnt, weil sie den dämlichen Streit nicht erträgt und deshalb die innere Emigration gewählt hat, nie richtig ins Spiel gebracht, um ihre Gunst geworben wird, was eine spannendere Konstellation ermöglicht hätte.

Das Spektakel XIV an den Freien Kammerspielen Magdeburg "stück/weise deutsch" mit seinen vier Produktionen ermöglicht vier Sichten aus unterschiedlichen Zeiten auf Deutschland, mit drei lebenden Autoren und zwei Uraufführungen, wirkungsvoll zusammengestückt, waren anspruchsvolle Kost an zwei Abenden. Die eiserne Hand, welche uns hält, war zu verspüren, zuweilen auch die Prothesen in Deutschland, da die Kammerspiele sich selbst und ihren Zuschauern einige Kondition abverlangte.


Carl Ceiss in "Theater der Zeit" 11/12 1998

 

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