Kleist. Im Fieber. Inzest

Mit Eva Mattes konnte die als Filmemacherin arrivierte Autorin Helma Sanders-Brahms eine prominente Darstellerin für ihren Doppelmonolog ULRIKE MONDZEIT - NEONZEIT gewinnen. Sie schrieb für die 8. Kleist-Festtage in Frankfurt/Oder über zwei Ulriken, die Totenklage halten, über zwei Selbstmorde zu unterschiedlichen Zeiten in Deutschland. Helma Sanders-Brahms führte bei der Uraufführung auch Regie und zeichnet für die Bühne und Kostüme verantwort-lich. Nur ein einsamer Stuhl, ein Scheinwerferlicht als Mond und eine Plastikplane befinden sich auf der sparsamen Bühne im ersten Teil, nach der Pause sind es zwei Seziertische mit Ballen blutverschmierter Tücher, darüber ein Dutzend Neonröhren hinter einer Weichzeichnergase, welche ganz auf das Spiel der Hauptdarstellerin konzentrieren.

Eva Mattes spielt zunächst Ulrike von Kleist, die sich als Gouvernante in einem Mädchenpensionat in Frankfurt/Oder in einer schlaflosen Vollmondnacht Mitte des 19. Jahrhunderts bei entferntem Vogelzwitschern des Zusammenlebens mit ihrem Bruder Heinrich erinnert, beklagt seinen sie zurückwerfenden Freitod und fühlt sich verletzt. Frau Sanders-Brahms thematisiert die nichtgelebte inzestuöse Liebe der Geschwister, das Männliche der alten Jungfer Ulrike, welche ein Regiment hätte führen können. Ihre Ulrike erzählt von ihrer gemeinsamen Reise durch halb Europa nach Paris, von der Weiblichkeit des Stotterers Heinrichs und den diversen emotionalen Verstopfungen seines Lebens. Dann zeigt die Mattes die nachgeborene Namenscousine Ulrike Weber, Hilfskraft bei einer Kommission von Gerichtsmedizinern, welche die gevielteilte Leiche der RAF-Mitbegründerin Ulrike Meinhof daraufhin begutachten, ob ihr Tod Mord oder Selbstmord war. Medizinstudentin Weber ruft sich in der Mittagspause der obduzierenden Ärzte unter leise summenden Neonröhren ihrer Gemeinsamkeiten und unterschiedlichen Lebenswege innerhalb der Studenten-bewegung Ende der 70'ger Jahre ins Gedächtnis und hält Totenwache. Beide miteinander korrespondierende Frauenmonologe, Männer sind hier nur Randfiguren, tänzeln zwar unterhaltsam von biographischen Detail zum nächsten, doch sind voll episch reflektorische Breite ohne eigentliche dramatische Grundsituation. Aber wie die Mattes mit ihrem lebendigen Spiel dies vollends vergessen, wie sie den Abend ganz zu einem Schauspielerinnenabend macht, mit ihrer präzisen Gestik Spannung erzeugt, ist bemerkenswert. Eva Mattes bricht die romanisch elegische Stimmung der "Mondzeit" in kurzen Einsprengseln leiser Komik, kann mit der großen Emotionalität ihres Spiels die Figur lebendig werden lassen. In der aktuelleren "Neonzeit" gelingt ihr dann mit sinnlicher Heftigkeit die Trauerarbeit um die RAF-Heilige noch zu steigern. Das überwiegend ältere und bürgerliche Publikum schwelgte dabei genußvoll in der eigenen Biographie ihrer wilderen, chaotischen APO-Tage und kicherte zuweilen über tatsächliche oder vermeintliche Lebensirrtümer. Lebhafter Beifall mit Bravos durchsetzt belohnten die Akteurin beim Gastspiel im Hebbel-Theater.

Karibischer Karneval in Frankfurt/Oder während des Kleist-Festtagsfiebers? Intendant Manfred Weber wollte einen großen historischen Bogen schlagen von der französischen Revolution und ihren Auswirkungen weltweit bis in die Gegenwart und eine Geschichte der Konflikte der Rassen und des immerwährenden Verrates der Revolution erzählen. Dazu bedient er sich Heinrich von Kleists 1811 geschriebener titelgebenden Novelle DIE VERLOBUNG VON SAN DOMINGO, welche er dafür dramatisiert und verwebt dies mit Ausschnitten aus Heiner Müllers "Auftrag" und heftet Anna Seghers Erzählung "Die Trennung" sowie das eigene Elaborat "In Erwägung" im weiteren Verlauf des Abends an.

Seine Bühne stellt ein symbolisches Segelschiff mit mannsgroßer Holztruhe, modernen Lammellenjalusien und mit rotem Segel vor. Die Anfangssituation, Gustav von der Ried, ein weißer Offizier der französischen Armee flieht auf Haiti während eines Aufstandes der Schwarzen vor dem rassistischen Blutbad ausgerechnet in das Haus des gefährlichen Anführers Congo Hoango, ist als dialektische Verfremdung aktuell reizvoll. Doch beim tragischen Ende der kleistschen Novelle, der irrtümlichen Ermordung der Verlobten durch Gustav, muß die erschossene Toni, nachdem sie tot umgefallen ist, sich nochmals erheben und tanzend um ein Seil drapieren, wobei ein Teil des Premierenpublikums in hämisches Gelächter ausbricht, dem anderen der kalte Schweiß des Entsetzens über diesem dramaturgischen Megagau von der Stirn rinnt. Vorange-gangen war die epische Breite der Kleistschen Novelle, welche sich als wörtliche Rede unverändert seziert dem Theater versperrt, ihm folgte die verflachende Darstellung der gescheiterten Haitianischen Revolution als ein Kasperletheater im Müller-Stück. Wenn die Darsteller von Debuisson, Sasportas und Galloudec miteinander streiten, müssen sie unbildlich dem nächsten Redenden einen Ball zuwerfen, läßt sich die hilflose Regie kaum unterbieten, Weber hält die Darsteller zu einem illustrierenden Spiel an. Falls er künftig eigene dramatisierte Werke inszeniert, wäre dem voll guter Absichten angefüllten Intendanten zu empfehlen, einen messerharten Dramaturgen seines Vertrauens zu beauftragen, ihn vor solchen Flops zu schützen. Sein symbolisches Schiff ging leider nicht auf große Theaterfahrt, das Segeltuch wirkte bedeutungsschwer und voller Webfehler, es strandete nach zwei Stunden kläglich. Das Publikum rannte bei der Premiere nach neunzig Sekunden dünnen Anstandsbeifall verstört aus dem Saal.

Kurt meint, sich an seine Geburt erinnern zu können. Dies ist Ausdruck seiner gesteigerten Emotionalität, seines Wunsches, nicht gefühlsmäßig zu erkalten wie seine Eltern. Er brennt innerlich, mit Vorsatz. Denn "Menschen sind leicht entflammbares Material." Der tückische Widerhaken im Stück: Kurt, der Sympathieträger, ist ein Psychopath. Ein Egoist, der sich in seiner abgeschotteten Egozentrik selbst zerstört. Er liebt seine ältere Schwester Olga. Verbrennt vor Eifersucht, als Paul auftaucht, mit seiner Schwester schläft. Er kokelt. Ganz normal, er pubertiert ja. Erst verbrennt 'ne Amsel. Dann die Schule. Bei einem Unfall bleibt eine Brandwunde, ein FEUERGESICHT, für Kurt eine Auszeichnung. Verwickelt Olga in seine pyromanischen Obsessionen. Bald brennt Fabrik und Kirche. Endlich: Die Alten werden geschlachtet. Sie waren so verständnisvoll. Aber verstanden nichts von ihrer Brut. Wollten nur das Beste - für sich: ein ruhiges Gewissen um des kleinen Friedens willen. Fiasko einer antiautoritären Erziehung.

Marius von Mayenburgs Stück FEUERGESICHT handelt vom fieberigen Feuer des Inzest eines Geschwisterpaares, ihre Liebe kehrt sich in Gemeinheit und Zerstörung. Jugendliche Psychowraks und Generationskonflikt. Kein Frühlings Erwachen. Les Enfants terribles 1998, Mayenburg grüßt Cocteau. Kurzszenen, Szenensplitter, wenige Sätze lang, videoclipschnelle Schnitte. Ein atemberaubendes Stakkato zahnradartig ineinandergreifende Dramaturgie. Voll unterkühlter Hitze, die Sprache lakonisch knapp. Monologe, Kommentare, alle Seiten der Familientragödie beleuchtend. Dafür bekam Marius von Mayenburg 1997 Kleist-Förderpreis Frankfurt/Oder und Preis der Frankfurter Autoren-stiftung 1998. Zwar die Ehre der Uraufführung geklaut. Die neu eingeweihte Schreinerwerkstatt der großen Münchner Kammerspiele war vierzehn Tage schneller.

Zuständig für Inszenierung, Bühne und Kostüme im TheaterBahnhof Frankfurt/Oder Roland May, sehr kompetent. Vom ersten Augenblick haben Stück und Inszenierung das Publikum ergriffen. Lassen es nicht mehr los, über das Stückende hinaus. Wenn Kurt seine drei Kanister Benzin im Theaterraum auskippt, wird einigen Zuschauern mulmig. Wo war doch gleich der Fluchtweg? Ist das nur ein Theaterspiel oder mehr als kühl geplante Selbstverbrennung? Kurt zündet sein Streichholz an. Ihm wäre es zuzutrauen. Alles brennt, in Gedanken. Regisseur May setzt auf ein nüchternes, direktes Spiel ohne falsche zukleisternde Psychologie. Spot an, Text, Licht aus. Nächste Stimmung, nächster Augenblick. Eine gegenwartsnahe Geschichte mit moderner Ästhetik. Läßt dem jugendlichen Publikum Zeit, sich in den sekundenkurzen Blacks zwischen den Szenen leise Kommentare der Zustimmung & Ablehnung zuzuflüsterten. Sie lebten die Inszenierung intensiv mit. Das Gefühl der späten neunziger Jahre, destruktive Kälte überwiegt. Die Inszenierung überträgt das Stück sehr adäquat. Der Raum feuerfest mit grauen Blechwänden tapeziert. Eine kaum entrinnbare Versuchsanordnung. Die Kostüme zweckmäßig, wiedererkennbar wie Nachbarn, geschmackvoll, die Figuren nicht denunzierend, ein richtige Strategie.

Eine geschlossene Ensembleleistung von Felix Constantin Voigt in der Titelrolle als Kurt, Patricia Hermes als seine Schwester Olga, Thomas Ecke als Vater, Astrid Höschel als Mutter und André Bolouri als Olgas Freund Paul. Gratulation zu einem hervorragenden Theaterabend! Marius von Mayenburgs FEUERGESICHT wird auf vielen Bühnen auflodern. Sich in sein Publikum einbrennen. Dies scheint sicher.


Carl Ceiss in "Theater der Zeit" 1/2 1999

 

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